Beispiel Einzelsupervision

Beispiel einer Einzelsupervision: Nadine

Wie entscheidend für einen Ermutigungsprozess die Klärung ist, dass das Problem, das bearbeitet werden soll, den Supervisanden und nicht dem Supervisor gehört, wird im nachfolgenden Beispiel einer Einzelsupervision deutlich.

Nadine ist Studentin im Fachbereich Sozialwesen und absolviert zurzeit ihr zweites Berufspraktikum in einem Kinderhaus-Projekt.
Zu Beginn der siebten Supervisionsstunde berichtet Nadine in einem leicht herausfordernden Tonfall, dass sie seit einer Woche unentschuldigt bei ihrer Arbeitsstelle gefehlt hat.

Sie macht eine lange Pause, wohl um mir als Supervisorin Gelegenheit zur Intervention zu geben. Wenn sie mir so herausfordernd von einem offensichtlichen Fehlverhalten Mitteilung macht, erwartet sie eine bestimmte Reaktion. Welche Übertragungen finden statt? Fordert sie die strafende, mahnende, kritisierende Mutter in der Person der Supervisorin? Möglicherweise will sie auch das kooperative Angebot einer gleichwertigen Beziehung überprüfen. Sie bringt ihre Ambivalenzen zu ihrer Handlung deutlich zum Ausdruck. Ich entscheide mich offen zu sein für die vielschichtigen Themen, die hinter einem solchen Eröffnungsangebot stehen können und frage interessiert zurück.

Supervisorin (SR): Und Du machst Dir Gedanken darüber! Magst Du erzählen, wie es dazu kam?

Nadine bekommt von mir zurückgemeldet, dass ich ihre Ambivalenzen gehört habe und sie diejenige ist, die entscheidet, ob wir gemeinsam ihre Schwierigkeiten strukturieren.

Nadine: Ich hatte einfach keine Lust! Es gab so viel anderes zu tun! Da hatte die Arbeit keinen Platz!

Ihre Ausführungen klingen trotzig und triumphierend! Sie scheint bereit zu sein, etwas zu verteidigen, was sie sich schwer errungen hat und trägt Sorge, es wieder zu verlieren. Dieser Sorge möchte ich Rechnung tragen.

SR: Es gab viel Wichtigeres für Dich, als sich auf die Arbeit zu konzen­trieren.

Ich möchte ihr zeigen, dass ich nicht das Recht habe, ihre Prioritätenset­zung in Frage zu stellen; die Verantwortung für ihre Wahl trägt Nadine selber.

Nadine: Mein Hund war krank. Er hatte einen Bandscheibenvorfall und fürchterliche Schmerzen. Nachdem der Tierarzt ihm eine Spritze gegeben hatte, ging es ihm zwar wieder besser, aber dann hatten wir einen Wasser­rohrbruch; der ganze Keller stand unter Wasser. Als ich das dann geregelt hatte, war ich so erschöpft, dass ich einfach Zeit für mich brauchte. Solche unvorhersehbaren Dinge überfordern mich. Das Studium, die Arbeit, eine Tochter habe ich auch noch, zum Putzen komme ich gar nicht mehr. Da darf nichts dazwischenkommen.

Weißt Du, was ich dann gemacht habe?! Ich bin stundenlang ausgeritten. Ich hatte vorher gar nicht bemerkt, dass es schon Frühling geworden war! Ich habe die laue Luft richtig genossen. Ich habe Krokusse gesehen. Ich habe wieder richtig aufgetankt.

Nadine klingt heiter und beschwingt während ihrer letzten Sätze. Ihren Trotz hat sie aufgegeben. Sie hat sich entschieden, mir zu vertrauen und ihren Wunsch nach Entlastung, der etwas Verbotenes in sich trägt, mitzuteilen. Nadine setzt sich gerade hin und fährt fort.

Nadine: Jetzt kann ich auch wieder arbeiten gehen. Meinst Du, ob es wohl Ärger geben wird? Eingeplant bin ich ja schon gewesen! Natürlich sind sie auch ohne mich zurechtgekommen, aber gefehlt habe ich bestimmt!

Nadine neigt anscheinend dazu, sich zu überfordern und nicht rechtzeitig zu erkennen, wann es notwendig wäre, die eigenen Energiequellen wieder aufzutanken. Die Blickrichtung einer Supervisorin, die ermutigend inter­venieren will, gilt nicht dem, was noch nicht erreicht ist, sondern dem Handeln der Supervisandin, das bislang zu einem gewünschten Ergebnis geführt hat. Nadines Leben, das zur Zeit vermutlich streng nach einem vorgegebenen Plan verlaufen soll, damit möglichst viele Aufgaben bewäl­tigt werden können, engt ihren Handlungsspielraum so sehr ein, dass sie mit ihren eigenen Normen und Wertvorstellungen in Konflikt gerät. Schuldgefühle wollte sie gerne an die Supervisorin abtreten, indem sie mich zu Beginn des Gesprächs zu Kritik aufforderte. Da ich auf dieses Beziehungsangebot nicht eingegangen bin, ihr aber meine Bereitschaft signalisierte, mit ihr an ihrem Konflikt zu arbeiten und sie trotz ihres Fehlverhaltens annehmen konnte, erleichterte ich ihr den Zugang zu sich selbst. Meine Hypothese zu ihrer Meinung über sich selbst war: Nadine glaubt sich nur dann wertgeschätzt, wenn sie möglichst viele Aufgaben gleichzeitig ohne Hilfestellung bewältigen kann. Müßiggang kann sie sich nicht erlauben, Zeit für sich selbst muss sie sich mühsam ertrotzen. Auf ihrer Arbeitsstelle scheint sie das Gefühl gewonnen zu haben, zwar nicht unentbehrlich zu sein, aber einen Anteil am Gelingen der gemeinsa­men Aufgaben zu haben. Ihr ist es auch wichtig, wieder in einen guten Kontakt mit ihren Kolleginnen zu treten. Mit der anschließenden Interven­tion möchte ich ihre Annahme, dass sie ihren Kolleginnen gefehlt hat, unterstützen und gleichzeitig ihren positiven Ansatz, gelernt zu haben, dass sie regenerieren muss, um ausreichend Kraft für die Bewältigung der Auf­gaben zu gewinnen, verstärken.

SR: Ich glaube auch, dass Du eingeplant gewesen bist, und deshalb Deinen Kolleginnen auch gefehlt hast. Wie Du mir Deine Situation schilderst, hast Du in dem einen Punkt das einzig Richtige getan. Du hast Dich um Dich gekümmert, als es notwendig war. Wahrscheinlich war es längst an der Zeit, neue Kraft zu schöpfen.

Nadine: Ja, das stimmt. Ich merke immer viel zu spät, dass ich mich ver­ausgabt habe. Und dann ist mir alles egal. Alles stimmt nicht! Um meine Tochter kümmere ich mich schon noch; aber das Praktikum und das Stu­dium interessieren mich dann nicht mehr.

SR: Bei den vielen Aufgaben, die Du Dir vorgenommen hast, ist es ganz natürlich, dass Du Prioritäten setzt. Traust Du Dir zu, darüber nachzuden­ken, wie es wäre, wenn Du schon rechtzeitig bemerkst, dass Du eine Pause machen solltest?

Mit dieser Frage sind wir an den entscheidenden Punkt der Umstrukturie­rung angekommen. Der Wahl fehlerhafter Methoden, wie z.B. sich so zu verausgaben, dass nur der Rückzug von den gestellten Aufgaben bleibt, liegt eine Entmutigung zugrunde. Ich möchte Nadine anregen, über Ände­rungsmöglichkeiten ihres Verhaltens, dessen Folgen ihr selber nicht zusa­gen, nachzudenken. Inwieweit Nadine sich selber zumuten wird, Verände­rungen anzustreben, wird an ihrer Antwort zu erkennen sein.

Nadine schweigt lange, wirkt nachdenklich und äußert dann:

Nadine: Mir Pausen gönnen. Wenn ich mir den Druck nehmen kann, dies musst Du noch machen, das musst Du noch machen. Mehr Zeit für das Studium einplanen. Ich wollte unbedingt mit Antje und Gisela (zwei Studienkolle­ginnen Nadines, die der Supervisorin ebenfalls über Super­vision bekannt sind; Anm. der Autorin) zusammen Examen machen. Antje sitzt schon an ihrer Examensarbeit. Sie haben aber beide keine Kinder und können sich ganz dem Studium widmen. Und ich dachte, ich schaffe es trotzdem! Ja, das ist die Entscheidung, die ich jetzt fällen kann. Ich stu­diere eben länger als die beiden.

Nadine hatte verstanden, dass sie mit ihren beiden Kommilitoninnen mithalten wollte und sich trotz der ungleichen Bedingungen in einen Wett­bewerb einließ, der zwar ihrer persönlichen Neigung sich zu überfordern, entsprach, aber den sie sich bis zum gesetzten Zeitpunkt, dem Examen, nicht gewachsen sah. Mit ihrer Entscheidung, aus dem Wettstreit auszu­steigen, fühlte sie sich wohler, überlegte zum Ende der Stunde noch, ihren Kolleginnen des Kinderhaus-Projektes ihre Überlastungssituation zu erklä­ren und unbezahlten Urlaub für die unentschuldigten Tage anzubieten.

In der nachfolgenden Stunde berichtete Nadine ausführlich, wie sie sich – in kleine Zielabschnitte eingeteilt – den weiteren Studienweg vorstellte, bat noch um einige Supervisionsstunden als Begleitung für ihre Examens­arbeit, auf die sie aber später mit dem Vertrauen, ohne zusätzliche Hilfe zurechtzukommen, verzichten konnte.