Fähigkeit des Erratens

Die Fähigkeit des Erratens

Zu den Aufgaben eines individualpsychologisch orientierten Supervisors zählt es, mit Hilfe bestimmmter Methoden, die Bewegungslinie zu erken­nen, die sich im Verhalten des Supervisanden weist. Eine dieser Methoden bezeichnet Adler als die ›Fähigkeit des Erratens‹; in der heutigen Wissen­schaftstheorie wird von dem Vorgang der ›Abduktion‹ gesprochen. Gemeint ist damit eine Form der Hypothesenbildung, die über Induktion – aus einer Reihe von Einzelfällen eine allgemeingültige Regel abzuleiten – und Deduktion – Herleitung der besonderen Erkenntnis aus dem Allgemei­nen – hinausreicht und ein intuitives Erfassen, der ›Fähigkeit des Erratens‹ einer Situation beschreibt. Die Anwendung dieser Methode in der Individualpsychologie korrespon­diert mit der Annahme, dass jede Äußerung eines Menschen lebensstil-typischen Charakter zeigt. Handlungen, Gesten, Mimiken, Gefühle, Worte des Supervisanden werden vom Supervisor miteinander verglichen und kombiniert, um auf diesem Wege Einsicht in den Lebensstil und die sich daraus ergebenden Handlungsmaxime zu gewinnen. Treffe ich als Super­visorin auf mir unverständliche Verhaltensweisen, stelle ich Vermutungen über ein hypothetisches Gesetz an, demzufolge die Verhaltensweisen nicht mehr unverständlich bleiben, sondern eine in sich schlüssige Logik erken­nen lassen.

Kein Supervisand verspätet sich ständig zu den Supervisionssitzungen, fehlt unentschuldigt, reagiert mit zögernder Zurückhaltung, ohne daß die­ses Verhalten einen in sich logischen Sinn ergibt.

Bereits mit den Vorstellungen der Supervisanden über die zukünftige Supervision lassen sich erste Hypothesen und Vermutungen zu ihrem indi­viduellen Lebensstil bilden.

Praxisbeispiel:

Einen Eindruck, wie unterschiedlich die Bedürfnisse eines Teams sein können, wird durch das anschließende Beispiel gewonnen. Bei der Super­visionsgruppe handelt es sich um ein Teil-Team des Pflegepersonals einer Station in einer Rehabilitationsklinik.

Im Kontraktgespräch habe ich die Frage gestellt: Welches persönliche Interesse habt Ihr an der Supervision?

Heidi: Wenn ich Ideen für Verbesserungen habe, Vorschläge mache, spüre ich immer nur Ablehnung. Die anderen sagen dann: Komm, setz Dich wieder hin! Ich will lernen, andere zu motivieren. Ich will mich durchsetzen!

Mögliche Diagnose: Heidi scheint eine aktive Kollegin zu sein, die es danach drängt, ihr berufliches Umfeld in Übereinstimmung mit ihren Arbeitskollegen innovativ zu gestalten. Wiederholte Zurückweisungen werden sie gekränkt und entmutigt haben. Die Supervision soll ihr ver­mutlich die Stärke, Macht und Ausdauer verleihen, die ihr bisher für ihre Vorhaben gefehlt haben.

Ihre Meinung über sich selbst könnte sein: „Alleine bin ich nicht in der Lage, meine Interessen durchzusetzen; ich bin auf andere Menschen, die meine Gedanken und Ideen gutheißen und mich bei der Verwirklichung unterstützen, angewiesen. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, andere für mich zu gewinnen, gelingt es mir nicht. Ich fühle mich wenig geachtet, unwichtig und bedeutungslos; das macht mich traurig und trotzig.“

Uta: Ich kann meinen Frust über die Arbeit nicht an Ort und Stelle bear­beiten, den nehme ich mit nach Hause. Dann kriegt mein Freund das immer ab. Wir haben auf der Arbeit keine Gelegenheit für Diskussionen und Problembesprechungen.

Mögliche Diagnose: Mag sein, dass Uta glaubt, sich ihr vermeintliches Recht auf Problembearbeitung am Arbeitsplatz mit der Teilnahme an Supervision nun endlich erworben zu haben. Sie wünscht sich eine klare Trennung zwischen Arbeit, Familie und Freizeit, die ihr zurzeit nicht gelingt. Ihren Freund mit den Schwierigkeiten, die in ihrer Arbeit auftau­chen, zu belasten, bereitet ihr Unbehagen. Sie fühlt sich alleingelassen, überfordert und erhofft sich mit der Supervision wahrscheinlich die Gele­genheit, eine überlastete Arbeitssituation in den Griff zu bekommen.

Ihre Meinung über sich selbst könnte sein: „Ich bin unfähig, mein Leben zu meiner Zufriedenheit zu gestalten. Das enttäuscht mich und macht mich auch wütend. Dadurch werde ich ungerecht, und besonders der, der mir am meisten bedeutet, muss darunter leiden. So wie ich mich jetzt verhal­ten, gefalle ich mir nicht.“

Astrid: Mir geht es wie Heidi!

Nachfrage von Seiten der Supervisorin: Wie meinst Du das?

Astrid: Wie die anderen mit Patienten umgehen, finde ich oft unmöglich. Da weiß ich nicht, was ich machen soll! Auch wie wir miteinander umge­hen, finde ich frustig. Ich will, dass sich das ändert.

Mögliche Diagnose: Astrid scheint sich für die Arbeitsatmosphäre auf der Station verantwortlich zu fühlen. Sie hat offensichtlich Vorstellungen dar­über, wie eine gute kollegiale Zusammenarbeit und ein wünschenswerter Umgang mit den Patienten sein sollten. Dabei gelingt es ihr wohl noch, ihren eigenen Ansprüchen und Wünschen in der Patientenbetreuung gerecht zu werden, sie sieht sich aber außerstande, ihre Kollegen für ihre Art zu arbeiten zu gewinnen und ein tragfähiges Arbeitsbündnis aufzu­bauen.

Ihre Meinung von sich selber könnte sein: „Ich weiß, wie eine gute Schwe­ster arbeiten sollte, und bin auch in der Lage, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen. In diesem Punkt bin ich meinen Kollegen überlegen. Wenn ich mir aber meine Zusammenarbeit mit den Kollegen ansehe, schäme ich mich. Hier habe ich an Achtung vor mir verloren; die möchte ich wieder­gewinnen!“
Ingolf: Ich will mich selber im Umgang mit Patienten, Kollegen, Proble­men erforschen und meine Reaktionen einschätzen und verändern. Auch im Umgang mit Ärzten. Warum ich immer schweißnasse Hände bekomme!

Mögliche Diagnose: Ingolf zeigt ein deutliches Interesse an Selbsterfah­rung. Inwieweit Supervision seinem Wunsch gerecht werden oder ob ihm eher eine Therapie weiterhelfen kann, ist noch abzuwarten. Seine heftige psycho-vegetative Reaktion im Umgang mit vermeintlichen Autoritätsper­sonen lassen starke Versagensängste vermuten.

Seine Meinung über sich selbst könnte sein: „Ich muss immer alles richtig machen, es darf mir kein Fehler unterlaufen. Jedes falsche Wort, jede falsche Handlung meinerseits könnte für mich gefährlich werden. Die anderen könnten entdecken, wie wenig ich meinen Aufgaben gewachsen bin. Dabei habe ich doch den Anspruch besser zu sein als sie. In meiner jetzigen Position fühle ich mich klein und unbeachtet. Mir steht ein höher bewerteter Aufgabenbereich zu, aber ich bin unsicher, ob ich dieses Ziel erreichen kann. Der Weg dahin ist noch sehr weit.“

Im weiteren Supervisionsverlauf wurden einige der vorgenannten Hypo­thesen bestätigt:

Heidi unternahm mit großem Engagement und Optimismus den Versuch, Kollegen und Kolleginnen anderer Stationen für eine Unterschriften­sammlung zu gewinnen. Ziel dieser Aktion sollte sein, die Klinikleitung dazu zu bewegen, gehaltliche Forderungen des Pflegedienstleiters, der erst vor kurzem seine Position in der Klinik angetreten hat, aber nach Heidis Meinung eine herausragend stützende und stabilisierende Haltung seinen Mitarbeitern gegenüber einnimmt, nachzukommen. Sollte seine Forderung nicht erfüllt werden, wollte er kündigen. Er hätte ein höher dotiertes Angebot in der Hand.
Heidi stieß bei ihrem Einsatz auf heftigen Widerstand bei den anderen Kollegen und Kolleginnen, der ihr bislang noch nicht direkt zurückgemel­det worden war, und brachte ihre Enttäuschung darüber in die Super­visionsstunde. In der Aufarbeitung, die mit Hilfe eines Rollenspiels, in dem jedes Supervisionsmitglied eine phantasierte Meinung zur Unter­schriftensammlung äußerte und damit mögliche Positionen der anderen Kollegen und Kolleginnen demonstrierte, stellte Heidi fest:
„Wenn ich eine Idee durchsetzten möchte, muss ich die Meinungen der anderen, die durchaus unterschiedlich zu meiner eigenen sein können, berücksichtigen und respektieren.“ Die erweiterte Einsichtsfähigkeit ver­half Heidi zu einem konstruktiven Ansatz im weiteren Umgang mit den Umsetzungsmöglichkeiten ihrer Ideen.

Uta äußert in der Abschlussrunde einer der folgenden Supervisionsstunden: „Als ich heute in die Supervisionssitzung kam, wusste ich gar nicht, was wir besprechen könnten. Es ging mir vieles ganz wirr durch den Kopf. Nachdem wir uns für ein Thema entschieden hatten, es strukturiert und bearbeitet haben, geht es mir gut. Mein Kopf ist total frei. Ich freue mich darauf, jetzt nach Hause gehen zu können. Es ist so, dass ich das Gefühl habe, die Arbeit erledigt zu haben.“

Astrid wechselte kurze Zeit später die Station – von einer neurologischen in eine orthopödische Abteilung -, nahm dort weiterhin an einer auch von mir geleiteten Supervision teil und reflektierte, dass die extremen Anforde­rungen, die aufgrund der komplexeren, sich auf die gesamte Persönlich­keit der Patienten stärker auswirkenden Erkrankungen, ihre persönliche Belastbarkeitsgrenze überschritten hatten. Gegen die eigenen Abwehr­mechanismen damals ankämpfend, versuchte sie ihrem Anspruch, positive Krankenschwester-Patient-Beziehungen herzustellen, gerecht zu werden. Da sie aber immer wieder in Konflikte mit den Patienten geriet, denen sie sich nicht gewachsen sah, verglich sie sich stetig mit ihren damaligen Kolleginnen, um für sich sicherzustellen, dass sie sich im Verhältnis zu ihnen wesentlich mehr Mühe gab. Dieser Vergleich gab ihr die angestrebte moralische und ethische Überlegenheit, die sporadisch ihrem Minderwer­tigkeitsgefühl, ihrer Missachtung sich selbst gegenüber, ausgleichend begegnete.
Auf Dauer gelang es ihr nicht, den eigenen Wert durch die Abwertung anderer abzusichern, so wechselte sie auf die andere Station. Hier fühlt sie sich den Aufgaben gewachsen, und sie bemüht sich sichtlich um ein kooperatives Miteinander im Team.

Ingolf berichtete, dass er eine Therapie angefangen hat. Später setzte er sich mit Fragen zu Umschulungsmöglichkeiten und Qualifizierungsmaß­nahmen auseinander, entschied sich zu einer Ausbildung zum Medizi­nischen Dokumentar und leitete aufgrund eines Diabetes mellitus ein berufliches Rehabilitationsverfahren ein.
Hypothesen zum Verständnis des Lebensstilmusters sind als solche auch zu behandeln. Bei all den Vermutungen, die auf der Basis einer tendenziösen Wahrnehmung, gelenkt durch den eigenen lebensgeschichtlichen Hinter­grund und der bevorzugten Theorie angestellt werden, gilt es zu überprü­fen, inwieweit einmal gewonnene Eindrücke durch weitere Beobachtungen abgesichert werden oder aber sich auch als irrtümlich erweisen.

Bewährt hat sich folgende Vorgehensweise:
Vermutungen und Hypothesen (z.B. durch die ›Fähigkeit des Erratens‹) bietet der Supervisor dem Supervisanden an, ohne sie durch weitere Informationen zu verdichten; er verlässt sich auf seine Gegenübertragungsgefühle. Dieser offene Umgang befähigt den Supervisanden zum Widerspruch, wenn Widerspruch notwendig ist, zur eigenen Ergänzung und Korrektur. Zusätzlich wird die Supervision vom Supervisanden als ein selbstgewählter Auftrag mit dem Ziel des Selbstver­stehens und des Selbstlösens erlebt und angenommen. Gleichzeitig schützt sie Supervisor und Supervisand vor der Abhängigkeit des Super­visors von seinen mühevoll erworbenen Erkenntnissen, die leicht zu einer einzig möglichen Wahrheit werden und keine Korrektur, keinen Wider­spruch von Seiten des Supervisanden duldet (vgl. Tymister, 1988; 4).

Für das dialogische Prinzip der Individualpsychologie ist auch die Situa­tionsbewältigung durch Fragen empfehlenswert. Bei den Systemtheoreti­kern, die viele Parallelen zum Adlerschen Konzept aufweisen, konnte ich eine Aussage dazu finden, der ich mich vorbehaltlos anschließe:

„Wir glauben, daß eine kooperative Konversation am ehesten erreicht wird, wenn der Supervisor Experte im „Nicht Wissen“ ist und Fragen aus der Haltung des „Nichtwissenden“ stellt. Durch diese Position des „Nicht Wissens“ beziehen wir uns auf eine allgemeine Haltung oder Einstellung, bei der die Handlungen des Supervisors in Neugierde und nicht in einem vorgefassten, theoretischen Meinungs- und Erwartungskonzept über den Supervisanden und das Problem münden.“ (Anderson u. Goolishian 1991, in Brandau, 1991; 76f).

Aufschlussreich für die Wirksamkeit dieser Methode ist der Brief einer Supervisandin, den ich im Anschluss an unsere letzte gemeinsame Super­visionsstunde, in der wir den Supervisionsprozess reflektiert hatten, erhal­ten habe.

Andrea schreibt: „Mir ist noch etwas Wichtiges eingefallen, was mir bei unseren Sitzungen auch immer geholfen hat: Ganz oft, wenn ich auf eine Deiner Fragen keine Antwort hatte, habe ich einfach so lange nach­gedacht, bis mir etwas einfiel, weil ich geglaubt habe, Du wüsstest die Antwort. Als mir dann klar wurde, dass Du überhaupt nicht immer eine Antwort wusstest, hatte ich schon gelernt, wie ich etwas über mich heraus­finden kann, z.B. durch intensives Nachdenken. D.h. ich habe zu Anfang eben so lange nach einer Antwort gesucht, bis ich sie gefunden habe, weil ich gedacht habe, es muss eine geben.
Irgendwie habe ich jedenfalls gelernt, Sachen an mich heranzulassen und darüber nachzudenken, anstatt bei Unangenehmen gleich abzublocken. Ich hoffe, Du hast einigermaßen verstanden, was ich meine? Ich finde darüber reden einfacher als darüber schreiben, aber es ist mit halt erst nach unse­rem Treffen eingefallen, und ich finde es wichtig genug.“

Über das Vertrauen der Supervisiorin in die Selbstaktivierungskräfte der Supervisandin ist es Andrea möglich geworden, (wieder) an die eigenen Fähigkeiten zu glauben.