Entwicklung des Lebensstils

Für die Entwicklung des individuellen Lebensstils sind eine Vielzahl von Bedingungen verantwortlich, die hier nur kurz skizziert werden. So ver­fügt der Mensch bereits bei seiner Geburt mit seinen angeborenen Erb­anlagen über eine Menge von Voraussetzungen, die seinen zukünftigen Lebensstil prägen und zur Entwicklung beitragen: das Geschlecht, die Konstitution, die motorischen und geistigen Fähigkeiten, Temperaments-unterschiede. Zu den mannigfachen Umweltbedingungen, die Einfluss nehmen, zählen neben der familiären Atmosphäre, der Geschwisterposition, in die ein Kind hineingeboren wird, den Themen und Methoden, die in der Ursprungsfamilie einen hohen Stellenwert einnehmen, auch die gesellschaftlichen Rahmenbedin­gungen. Kompliziert wird der Begriff Lebensstil dadurch, dass mit ihm nicht nur die typische Struktur, sondern gleichermaßen die individuelle Bewegungslinie eines Menschen, also die für ihn charakteristische Lebens­dynamik, terminologiert wird. Im Verhältnis zum unübersehbaren Mate­rial des Lebens meint er damit auch eine Art Auswahlprinzip, nachdem das Kind vorgeht: das aktive und schöpferische Einschalten in die gewal­tige Vielfalt von Sinneseindrücken, die auf das Kind zu Beginn seines Lebens einstürzen als eine notwendige Bedingung, um sich orientieren zu können.

Die Individualpsychologie nimmt an – in Übereinstimmung mit allen ande­ren tiefenpsychologischen Richtungen -, dass bereits Erlebnisse und Erfah­rungen des Säuglings im kausalen Zusammenhang mit der Formulierung und Entwicklung des Lebensstils stehen. Rainer Schmidt, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie, definiert den Lebensstil als „ein Programm, das sich der Mensch, herausgefordert durch die Erfah­rungen mit seinem vorgefundenen sozialen Umfeld, in der frühen Kindheit bildet als seine schöpferische Antwort auf diese Herausforderung“ (Schmidt, 1980; 44). Paul Rom nennt ihn „das einzigartige System von selbst gewählten Antworten auf die Fragen, die das Leben dem Menschen vom Augenblick seiner Geburt an stellt.“ (Rom, 1976; 8). Diese frühesten Kindheits-erlebnisse werden in der Vorphase des Sprach­erwerbs über die sinnlichen Bereiche Geräusch, Gefühl, Geruch, Geschmack und Bilder interpretiert und entsprechend erwidert. „Es liegt auf der Hand, dass dieser Lebensstil mehr ein Geschöpf der Gefühle und einer privaten Logik ist, als das einer sprachlichen artikulierten Antwort – eine solche hat das Kind ja noch nicht – und schon gar nicht die einer objektiven Logik“ wendet Rainer Schmidt (Schmidt, ebd.) ein.

Adler nennt das Kind einen schlechten Interpreten. Gemeint hat er damit wohl auch die reduzierte Untersuchungsmethode, die ein Kind wählt, Ordnung und Sinn in die jeweiligen Umwelteindrücke zu bringen. Titze/Gröner sprechen hier von einem „Zwei-Schubladen-Prinzip“, nach dem das Kind zunächst vorgeht: „Denn alle Umwelteindrücke, alle Konfrontationen mit den Gegenständen der Lebenswirklichkeit lösen lediglich zwei grundlegende Arten von Gefühlen aus: entweder angenehme oder unangenehme. In der Tiefenpsy­chologie wird hier folgerichtig vom so genannten Lustprinzip gesprochen, da alles, was beim Kind Lustgefühle auslöst, von diesem intuitiv als ‚gut‘ bewertet bzw. beurteilt wird. Umgekehrt wird alles, was mit Unlust­gefühlen einhergeht, vom Kleinkind als ’schlecht‘ oder ‚böse‘ erfahren.“ (Titze/Gröner, 1989; 24). Verbrennt sich ein Kind seine Hand an einer heißen Herdplatte, schreibt es Herdplatten zunächst nur diese eine negative Eigenschaft zu, ohne andere Merkmale zu berücksichtigen.

Im weiteren Verlauf der Entwicklung, wenn Abstraktionsvermögen und Sach­lichkeit als kognitive Fähigkeiten mit Beginn des Spracherwerbs, die affektiven Urteile unterstützen, erweitert sich das ursprüngliche „Zwei-Schubladen-Prinzip“ und Wahrnehmungen, Meinungen, Stellungnahmen und Handlungen werden differenzierter. Eingebunden in seine vorgefun­denen sozialen Gegebenheiten sammelt das Kind Eindrücke und Erfahrun­gen, beginnt Stellung zu beziehen, wertet, schätzt ab, entwickelt seine persönliche Auffassung von der Welt, seine Meinung über sich selbst und seine Fähigkeiten, auf seine Umwelt Einfluss zu nehmen. Nach und nach verfügt es über eine Anzahl von praktischen Erfahrungsverknüpfungen, auf die es sich, bei seinen Bemühungen sich zurechtzufinden, besinnen kann. Das schmerzhafte Erlebnis mit der heißen Herdplatte wird in der Erinnerung verblassen, insofern sich nicht ähnliche Erfahrungen häufen. Traumatische Erfahrungen beeinflussen nach individualpsychologischer Auffassung nur dann den Lebensstil, wenn sie aufgrund von Wiederholun­gen dauerhaft wirken. Diese wiederkehrenden Erlebnisse könnten dann zu einer grundsätzlichen negativen Einstellung über das Leben im allgemei­nen führen. Eine entsprechende lebensstiltypische Annahme des Kindes könnte konsequenterweise lauten: „Meine Umwelt ist gefährlich; sie besteht aus vielen schmerzhaften, unvorhersehbaren Begegnungen, denen ich schutzlos ausgeliefert bin“.

Um die vielfältigen und mit zunehmendem Alter komplizierter werdenden Wahrnehmungen und Erlebnisse fassen und ordnen zu können, werden sie in ein individuelles System – dem persönlichen Lebensstil – eingepasst. In dem Bild des Kindes wird ein gewisser Grad von innerer Dichte und Systematik geschaffen. Während einige Absichten, Bestrebungen und Methoden sich dem Kind als sinnvoll erweisen, sie beizubehalten, gar zu trainieren, so dass sie sich mit der Zeit und in stetiger Bestärkung generali­sieren und verankern, werden andere, weniger Erfolg versprechende, vernachlässigt und außer acht gelassen. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr ist es dem Kind mit seiner natürlichen Fähigkeit, seiner schöpferischen Kraft ratend und tastend gelungen, ein handlungsorientiertes Konzept zu erstel­len, das ihm zur lebenslangen Orientierung dient und im weiteren Verlauf in Beziehung zu den jeweiligen konstellativen Bedingungen lediglich feine Ausdifferenzierungen erfährt. Nur durch tief greifende Bewusstseinsände­rungen, wie sie etwa durch Beratung, Therapie und meines Erachtens auch durch Supervision eingeleitet und begleitet werden können, gelingt eine Beeinflussung des ausgeformten Lebensstils.