Prioritäten-Profile

Prioritäten-Profile

Als Beispiel führe ich die Ergebnisse der Prioritäten-Profile einiger Mitarbeiterinnen einer Rehabilitationsklinik an:
Prioritäten-Profil: Dolores
Ü   K    G    B
3 | 5,5 | 3,5 | 3
Priorität Kontrolle
Bei Dolores – sie ist Leiterin einer therapeutischen Abteilung der Rehabilitationsklinik – nimmt die Priorität Kontrolle die erste Position ein. Für sie ist es wichtig, Schwierigkeiten, Risiken und Unsicherheiten vorzeitig zu erkennen, auszuschalten oder zu beherrschen. Aufmerksam und eher zurückhaltend bemüht sie sich, den Überblick zu bewahren, Menschen ihrer Umgebung und Situationen einzuschätzen und in den Griff zu bekommen. Klare Absprachen, korrekte Aufgabenverteilung und möglichst präzise Einhaltung von Regeln und Verabredungen erleichtern ihr das Miteinander. Sie bietet sich und anderen zwar wenige Freiräume zum Experimentieren, vermittelt aber Sicherheit und Zuverlässigkeit und ist immer bereit, ihren Beitrag in der Gruppe zu leisten, sobald sie sich das zutraut. Während sie ihre eigenen Gefühle kontrolliert und auch anderen nicht zu nahe treten möchte, sich eher auf Intellekt und Logik verlässt, ist es ihr nicht gleichgültig, welche Gefühle ihr andere Menschen entgegenbringen (Gefallen als 2. Priorität). Trotz aller Zurückhaltung und einem vorsichtigem Taktieren ist sie freundlich, verständnisvoll und optimistisch. Auffällig sind die ähnlichen Werte bei den übrigen Prioritäten. Dolores wird es nicht schwerfallen, auf diese Prioritäten zurückzugreifen. Unangenehme Züge der Priorität Kontrolle wie starres Regeldenken, übermäßiger Ordnungssinn, „tyrannische“ Gängelei sind bei ihr nicht zu befürchten, dafür sind die tangierenden Prioritäten zu stark ausgeprägt und jederzeit verfügbar. Ihre Mitarbeiterinnen werden sich bei ihr aufgehoben fühlen, sich auf sie verlassen können und ihre Fachkompetenz schätzen. Sie werden sich oft auch aufgefordert sehen, dem Anspruch von Dolores nachzukommen und sich in ihrer Gegenwart unzulänglich erleben. Aber gemeinsame Besprechungen finden sicherlich bei einer Tasse Kaffee statt (Priorität Bequemlichkeit).
Prioritäten-Profil: Susanne
Ü | K | G | B

3,5 | 2 | 1 | 2
Priorität Überlegenheit
Die Priorität Überlegenheit steht bei Susanne – Mitarbeiterin der psychologischen Abteilung der Klinik – an erster Position. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass Susanne eine Kollegin ist, die bereitwillig Verantwortung – auch für andere – übernimmt, selbständiges Arbeiten anstrebt und sich mit viel Idealismus den Aufgaben stellt. Wahrscheinlich wird sie sich um eine fehlerfreie Erledigung der anstehenden Arbeiten bemühen, innovative Ideen entwickeln und deren Einführung durchsetzen wollen. Ihr Ehrgeiz kann sie leicht in Situationen bringen, sich zu überfordern, einmal dadurch, dass sie sich zu viel Arbeit aufbürdet oder durch ihr Bestreben, anderen überlegen zu sein und dadurch, dass sie sich stets angestrengt nach erfolgsträchtigen Tätigkeiten umsieht. An dieser Stelle gerät sie möglicherweise in Konflikt mit ihren KollegInnen. Weil sie sich so fleißig und engagiert nach dem besonderen umschaut, glaubt sie sich dann auch im Recht, wenn sie es gefunden hat. Fällt die Anerkennung der anderen aus, fühlt sie sich leicht als Opfer, Märtyrerin und sieht die anderen im Unrecht. Auch können es ihr die KollegInnen verübeln, wenn sie sich als die Bessere, Klügere etc. darzustellen versucht. Die geringe Berücksichtigung der Priorität Gefallen wollen lässt darauf schließen, dass Susanne bereits Ausgrenzungen erlebt hat und trotzig mit Rückzug reagiert. Würde es ihr gelingen, ihre Angst vor der Bedeutungslosigkeit zu reduzieren, wäre sie nicht so leicht verletzbar, wenn ihre angestrebte Wunschposition nicht unumstritten ist: sie könnte sich mehr auf andere einlassen und im Miteinander – zwar vielleicht langsamer und nicht unbedingt im vollem Umfang ihrer Wünsche – stabilere Fortschritte erzielen. Susanne zeigt sich bereit zu der Testauswertung Stellung zu beziehen:

Susanne: „Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Priorität „Überlegenheit“ bei mir an erster Stelle und „Gefallen wollen“ an letzter Stelle steht, aber die Beschreibungen über mich und meine Situation an meiner Arbeitsstelle treffen alle zu. Z.B. die Beschreibung, dass ich mich bemühe, meine Arbeit schnell und fehlerfrei zu erledigen, und dass es für mich kein Problem ist, mich ebenso schnell selbst in Stresssituationen hinein zu manövrieren. Auffallend richtig ist auch meine derzeitige Situation beschrieben – „angestrengt nach erfolgsverdächtigen Tätigkeiten umsehen“. Meine Arbeit in der psychologischen Abteilung beschränkt sich auf das Schreiben von Patientenbefunden und beinhaltet weniger organisatorische Arbeit. Mein derzeitiges Ziel ist es, meinen Tätigkeitsbereich zu erweitern – mehr Organisation und Kontakt zu Patienten. Dabei muss ich mich nach interessanten Möglichkeiten umsehen, damit es auch für meinen Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung eine wertvollere Arbeit wird und ich es schnell umsetzen kann. Aber auch der Absatz, in dem beschrieben wird, dass es mir meine Kolleginnen verübeln, wie ich darzustellen versuche, stimmt. Als es um die Neubesetzung der Stelle in der psychologischen Abteilung ging, in der ich zu dieser zeit als Vertretung gearbeitet habe, hat eine Kollegin, die ebenfalls Interesse an dieser Stelle hatte, versucht mich sehr unkollegial „auszustechen“. Selbstverständlich reagiere ich darauf mit Rückzug, und meine Priorität „Gefallen“ stecke in diesem Fall ohne Probleme zurück!“
Prioritäten-Profil: Brigitte
K | G | B | Ü

4 | 3,5 | 2 | 1,5
Priorität Kontrolle
Die Priorität Kontrolle liegt bei Brigitte, Mitarbeiterin in einer therapeutischen Abteilung der Klinik, an erster Stelle, dicht gefolgt von der Priorität Gefallen wollen. Diese Kombination erleichtert es Brigitte, Kontakt herzustellen, Einblick und Übersicht – auch über den eigenen Arbeitsbereich hinaus – zu gewinnen und das Geschehen um sie herum zu dirigieren. Als Kollegin wird man ihre Freundlichkeit, Flexibilität, Kompromissbereitschaft, Ausdauer, Gründlichkeit und ihren Fleiß schätzen. Im Notfall wird sie immer bereit sein, einzuspringen, Ordnung in ein Chaos zu bringen, wenn sie sich der Aufgabenstellung gewachsen fühlt. Ihr Eifer anderen zu gefallen und ihre starke Neigung zur Selbstkontrolle können allerdings auch zu einer ausgeprägten Anpassungsbereitschaft führen, die dann eine beeinträchtigte Selbstachtung und Geringschätzung der anderen nach sich zieht. Dadurch, dass persönliche Interessen in den Hintergrund gestellt werden, um den Wünschen der anderen entsprechen zu können, gerät das eigene Persönlichkeitswachstum schnell aus dem Blickfeld. Die Paarung der Prioritäten lässt vermuten, dass Brigitte sich eher durch Zuschauen aus der zweiten Reihe an neue Aufgaben heranwagt und weniger forsch und zielstrebig Herausforderungen annimmt. Wenn sie aber trainiert ist, wird sie gern freiwillig mitmachen, sich in die bestehende Gruppe leicht einfügen und auch durchaus eine Führungsposition einnehmen wollen und sich zugehörig fühlen können, vorausgesetzt, die anderen finden Gefallen an ihr.

Beispiel einer Einsatzmöglichkeit der Prioritätenskala

Bernhard Sieland setzte in einwöchigen Trainingskursen zur Selbstermutigung für Lehramtskandidaten neben anderen Übungen die Prioritätenskala ein (vgl. Sieland, 4/1988; 246 – 255).

(Bernhad Sieland, Dr. phil., Dipl. Psychologe, arbeitete am Seminar für Psychologie an der Technischen Hochschule Braunschweig, sein Forschungsinteresse gilt insbesondere Modellen der Analyse und Förderung von Selbstentwicklungskompetenzen.)
Zur Aufgabenstellung gehörten 3 Schritte:
Anhand des Fragebogens wurden zunächst die individuellen Prioritäten analysiert.

Im zweiten Schritt sollten die Teilnehmer im Zeitraum von einer Woche spezifische Gewohnheiten als auch deren persönliche und soziale „Kosten und Nutzen“ einschätzen. Im dritten Schritt suchten sich die Teilnehmer einige Mutproben (perceptuelle Alternativen) heraus, die sie bestehen wollten; d.h. in einem übersehbaren Rahmen sollten die persönlichen defensiven Katastrophenphantasien („…das will ich unbedingt vermeiden, weil…“) einer Realitätsprüfung unterzogen werden. Im Verlauf des Kurses wurde dann die individuelle Selbstermutigung trainiert: z.B. Teilnehmer mit der Priorität „Gefallen wollen“ versuchten sich in konstruktiver Kritik, nahmen sich zurück in unnötiger Hilfeleistung und probierten einseitige Wünsche abzuweisen. Sie erfuhren dabei, wie durchgängig ihre Angst von anderen abgelehnt zu werden, das eigene Verhalten lenkt und lernten diejenigen, die sich weniger defensiv um Anerkennung bemühten, neu einzuschätzen. Bernhard Sieland beschreibt, dass diese Übungsreihe von den Kursteilnehmern als eine Art Gordischer Knoten, als eine zentrale Übung des Kurses erlebt wurde.

In der dargestellten Form kann die Prioritätenskala auch in Supervisionsprozessen angewendet werden.

So entstand zum Beispiel nach der individuell durchgeführten Analyse in der genannten Klinik zum Zweck der Demonstration für die vorliegende Arbeit ein lebhaftes Interesse bei den befragten Mitarbeiterinnen an einer Weiterarbeit und Intensivierung.

Nicht nur in der Einzelsupervision, sondern auch in der Teamsupervision und –entwicklung erscheint mir die Benutzung des Fragebogens sinnvoll zu sein. Die Orientierung „wie wirkt meine Priorität im Verhältnis zu meinem Kollegen“ mit den Punkten:

  • was will ich erreichen
  • was will ich vermeiden
  • was kostet mich mein Verhalten
  • wie fühlen sich die anderen dabei

verhilft zu wertvollen Hinweisen, die die Arbeit an einer Atmosphäre der gegenseitigen Toleranz und Akzeptanz fördern

Zur Anwendung des Fragebogens gibt Schoenaker zu bedenken:

Mehr als ein Hilfsmittel zum Gesprächseinstieg im Bewusstsein: `Alles kann auch anders sein`(Adler), kann der Prioritätenfragebogen nicht sein. Das Verständnis für die Priorität des Patienten und seine Problemfelder kann in der Therapie die Erarbeitung von Lebensstilaspekten nicht ersetzen, aber das Gespräch kann gezielter angesetzt und die therapeutische Beziehung in kürzerer Zeit hergestellt werden. Der Zusammenhang Problem/Lebensstilaspekt wird leichter erfasst. die Selbstverantwortung für Ziel und Methode verstanden; das Bewusstsein für den zu zahlenden Preis geweckt“ (Schoenaker, 1984; 15).

Im Weiteren warnt er eindringlich vor Stigmatisierungen, insbesondere weil sich im deutschsprachigen Raum die Verwendung der Etikette „Überlegenheitstyp“, „Bequemlichkeitstyp“ etc. eingeschlichen hat: „Diese Etiketten oder Stigmas bedeuten für viele Patienten ein unabänderliches Schicksal oder eine Entschuldigung für ihr Verhalten. Sie wirken eher konservierend, als dass sie seine Flexibilität und sein kreatives Denken fördern. Auch der Therapeut, der der Meinung ist, dass der Mensch seine Priorität nicht ändern kann, soll aus Respekt vor der vielschichtigen Einzigartigkeit der menschlichen Persönlichkeiten seinen Patienten nicht auf so wenig sagende Begriffe festlegen “ (ebd.).

Skeptiker, die jegliche Hilfsmittel in Beratung und Therapie ablehnen, erinnert Schoenaker an Adlers Hinweis: „seine Sache auf nichts zu stellen“ und ergänzt mit eigenen Worten „seinen kühlen Kopf mit einem warmen Herzen“ (ebd.) bereichern. Nur so kann jede Methode, jedes Hilfsmittel optimal eingesetzt werden.