Rudolf Dreikurs

Das ›Gemeinschaftsgefühl‹ bei Rudolf Dreikurs

Rudolf Dreikurs hat sich als Schüler von Adler nach Beendigung des zweiten Weltkrieges insbesondere in Amerika um die Verbreitung und Weiterent­wicklung der Individualpsychologie verdient gemacht. In seiner Schrift „Grundbegriffe der Individualpsychologie“ (1969) teilt Rudolf Dreikurs Adlers Grundgedanken, dass die menschliche Gemeinschaft für die Entwicklung des Menschen von weitreichender Bedeutung ist, uneingeschränkt und misst dem Gemeinschaftsgefühl einen eben solchen grundsätzlichen Stel­lenwert bei wie Adler selber.

Er begründet diese Bedeutung damit, dass der Säugling „zu den schutzlo­sesten Wesen, die es auf der Erde gibt“ zählt (ebd.; 17). Ohne mensch­liche Gemeinschaft wäre er nicht in der Lage zu existieren und sich in sei­ner Art weiterzuentwickeln. „Er ist von Natur aus nicht dazu fähig, sich allein im Leben zu behaupten. Er hat nicht die Mittel, die dafür anderen Geschöpfen zur Verfügung ste­hen, weder Agriffswaffen in Form eines starken Gebisses, gewaltigen Körperkräften, starken Krallen, insbesondere Schnelligkeit oder Kleinheit“ (ebd.; 17).

So führt Dreikurs das menschliche Zusammenleben als eine zwingende Notwendigkeit an, eine Notwendigkeit, die gegenseitige Hilfeleistung und Arbeitsteilung und damit menschliches Dasein erst ermöglicht. Auch er sieht in dem Gemeinschaftsgefühl eine „angeborene Möglichkeit“ im Menschen, die entfaltet werden muss, um nicht zu verkümmern (ebd.; 24). Es sei keine konstante Größe, sondern variiert je nach der Beziehung, die das Individuum zu seinen jeweiligen Lebenssituationen aufnimmt. Dabei ist die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls an eine positive Selbsteinschätzung des Individuums gekoppelt: erlebt das Individuum in seiner sozialen Umgebung Anerkennung und Wertschätzung, nimmt der Grad des Gemeinschaftsgefühls zu; erlebt das Individuum hingegen Ablehnung und Geringschätzigkeit, reduziert sich der Grad des Gemeinschafts­gefühls.

Der einzelne erlebt das Gemeinschaftsgefühl essentiell in dem Bewusstsein, sich anderen Menschen zugehörig zu fühlen, als einer von ihnen zu gelten, in der Gemeinschaft integriert zu sein. Mit diesem Gefühl der Zugehörig­keit und des Eingebundenseins entsteht die Fähigkeit zur Mitarbeit und das Bedürfnis, einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Dieser dialek­tische Prozess bildet für Rudolf Dreikurs die Basis der Mitmenschlichkeit.

Dreikurs geht davon aus, dass jeder Mensch als Zeichen seiner sozialen Bestimmung danach strebt, seinen Platz im Leben zu finden.

Mit den ihm zur Verfügung stehenden Methoden versucht er, sich mit der Gemeinschaft verbunden zu fühlen. Auch wenn manche Methoden den Anschein erwecken, diesem Ziel zu widersprechen, sind sie dennoch als solche anzusehen und zu verstehen. Wenn also jemand sich anstrengt, als Bester, Klügster, Langsamster oder schwarzes Schaf seinen Platz in der Gemeinschaft zu besetzen, entspringt diese Anstrengung dem gleichen Bedürfnis wie die Methoden eines ande­ren, die auf ein Miteinander ausgerichtet sind.

Das Gemeinschaftsgefühl äußert sich also in der Art und Weise, wie der einzelne sich in die Gemeinschaft einbringt, welchen persönlichen Beitrag er in der Lage ist zu leisten. Je ausgeprägter die Gewissheit ist, integriert zu sein, sich anderen Menschen zugehörig zu fühlen, desto ausgebildeter sind die Fähigkeiten zur Kooperation.

Dreikurs konstatiert:

„Die Fähigkeit eines Menschen zur Kooperation kann als Maßstab für sein Gemeinschaftsgefühl angesehen werden“ (ebd.; 24).

Wer sich demzufolge als Mitglied einer Gemeinschaft zugehörig fühlt, kann ohne Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls darauf verzichten, fort­während eigene Interessen, Bedürfnisse und Wünsche in den Vordergrund zu stellen. Die Erfordernisse, die aus den Werten, Zielen und Bestimmungen der Gemeinschaft entspringen, stehen für ihn im Mittelpunkt. Das Bestreben, darauf zu achten, wie viel man von anderen bekommt, ver­liert sich in dem Bedürfnis, selber zu leisten. Eigene Aktivitäten stehen als Folge davon nicht mehr in einem Wenn-Dann-Spannungsfeld: aus dem Anspruch eines Menschen, der sich nicht verbunden fühlt, „wenn Du für mich tust, dann tue ich für Dich“, wird das Erleben „ich tue, und es geht mir gut“.

So zeigt sich das Gemeinschaftsgefühl auch darin, inwieweit der einzelne fähig ist, zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft, zu der er sich zugehörig zählt, beizusteuern, ohne aufzurechnen, welche Gegenleistung er selber erfährt. Rudolf Dreikurs erkennt in dieser Fähigkeit, sich vorbehaltlos für die Gemein­schaft einzusetzen, den „guten Mitspieler“.

Veranschaulichen möchte ich diesen Kontext an einem Beispiel aus der beruflichen Praxis: vier Erzieherinnen treffen in einem Team eines Kin­dergartens aufeinander. Während die eine Kollegin dem Team beigetreten ist, weil sie nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit froh ist, eine Anstellung gefunden zu haben, arbeitet eine zweite Kollegin in dem Kindergarten, weil er für sie zentral gelegen ist, eine dritte Kollegin, um ihre Fähigkei­ten als Erzieherin einzusetzen, und eine vierte Mitarbeiterin schätzt ihre Kolleginnen als gute Freundinnen und Begleiterinnen. Offensichtlich ist der Grad des Verbundenheits- und Zusammengehörigkeitsgefühl bei der vierten Kollegin am stärksten ausgeprägt. Die Einsatzbereitschaft eines jeden Teammitglieds, an dem Gesamtauftrag der Institution mitzuwirken, äußert sich insbesondere dann, wenn es darum geht, konfliktträchtige Situationen gemeinsam zu bewältigen. Diejenigen Kolleginnen, die sich weniger als Teammitglied sehen und erleben, werden eher darauf bedacht sein, ihre persönlichen Interessen zu vertreten als jene Kollegin, der grundsätzlich daran gelegen ist, in einem Miteinander Lösungen zu ent­wickeln. Indizien dafür, inwieweit die jeweiligen Stellungnahmen und Handlungen des einzelnen den Erfordernissen der Gemeinschaft entspre­chen, finden sich in der Betrachtung, ob die Bedürfnisse, die die aktuellen Bedingungen und Umstände der Gruppe fordern, berücksichtigt sind und eine sachgemäße Bewältigung der Aufgabenstellung gewährleistet ist.

Neben dem Hinweis: „die Erfüllung der sozialen Aufgaben bedeutet nicht nur die Bereitwilligkeit und Fähigkeit, uns den Menschen um uns herum anzupassen, sondern auch die Notwendigkeit, zur sozialen Entwicklung und Verbesserung beizutragen“ (ebd.; 26), bezieht sich Dreikurs bei der Art und Weise, wie diese Betrachtung vollzogen werden soll, auf Adlers Formulierung, jede Fragestellung „sub specie aeternitatis“, also vom Standpunkt der Ewigkeit, anzugehen. Nur aus dieser Blickrichtung wären die Bedingungen für ein soziales Leben auszumachen, abgekoppelt von überfrachteten Anforderungen und verfehlten Sichtweisen, die die jewei­lige Situation als auch persönliche Ängste und Absichten und einseitige Auffassungen diktieren können.

Dreikurs findet in der Fähigkeit, „die gegenwärtigen Ansprüche auf Mit­arbeit mit der Bewegung nach einer besseren Gemeinschaft hin“ verknüp­fen zu können, die ideale Ausdrucksform des Gemeinschaftsgefühls“ (ebd.; 27). Ihm geht es also wie Adler darum, dass der Einzelne sich nicht den vorge­fundenen Gegebenheiten der Gemeinschaft anpasst, sondern sein Augen­merk auf deren soziale Weiterentwicklung lenkt und hierzu seine persön­liche Mitarbeit zur Verfügung stellt. „Jeder von uns muß ein unsicheres Gleichgewicht herstellen, zwischen den Notwendigkeiten und dem Verlangen nach Weiterentwicklung. Selbst wenn man fähig wäre, alle Forderungen der Gesellschaft und seiner Mit­menschen zu erfüllen, was an sich unmöglich ist, da die verschiedenen Menschen und Gruppen, zu denen wir gehören, oft gegensätzliche Ansprüche stellen, so würde man trotzdem in seiner sozialen Anpassung versagen, wenn man die Notwendigkeit einer Verbesserung vernachlässi­gen würde“ (ebd.; 26).

Zum Abschluss seiner Ausführungen kritisiert Rudolf Dreikurs die Versuche der modernen Menschen, sich selbst zu „finden“, indem sie sich bemühen, die individuellen Bedürfnisse und Wünsche zu erforschen und in den Vorder­grund zu drängen. Dabei verurteilt er diejenigen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Richtungen, die eine Anschauung zum Wohle des Einzelnen favorisieren und die Gemeinschaft aus den Augen verlieren. Die Frage: „Wie kann man wissen, wer man ist“, beantwortet Dreikurs konsequent gemeinschaftsbezogen und handlungsaktiv: „Was wir sind, zeigen wir nur in dem, was wir tun. In unseren Tätigkeiten erfüllen wir uns oder fehlen darin. Man kann nicht Handelnder und Zuschauer zur gleichen Zeit sein. Nur wer sich vergißt, kann sich finden“ (ebd.; 29).

In diesem Sinne verleihen gemeinschaftsbezogene Aktivitäten dem menschlichen Leben den eigentlichen Sinn und den notwendigen inner­lichen Frieden.