Beratungsprozess

Der kooperative Beratungsprozess Supervision

Supervision wird hier verstanden als geleiteter, praxisorientierter und berufsbezogener Beratungsprozess, welcher der Erweiterung und Vertie­fung fachlicher, persönlicher und sozialer Handlungskompetenzen als auch der Psychohygiene von Menschen, die in sozialen Arbeitsfeldern beschäf­tigt sind, in einem hohen Maße Beziehungsarbeit zu leisten haben und deren Kooperationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen zum täglichen Rüstzeug gehört, dienen soll.

Die Entwicklungsmöglichkeiten, die dem Supervisanden mit dem Angebot der Supervision eröffnet werden, erstrecken sich auf die psychosozialen Prozesse in der Beziehung zwischen Supervisand und Klient/Patient, die psychosozialen Prozesse in der Beziehung der Kollegen untereinander und auf teamübergreifende und institutionsbezogene Fragestellungen. Diese möglichen Perspektiven einer Supervision werden in einem dialogisch konzipierten Ansatz, den eine individualpsychologisch ausgerichtete Supervision anwendet, mit allen Beteiligten abgesprochen.

Zu den Reflexionsebenen im Beratungsprozess zählen das konkrete Tun, die beteiligten Emo­tionen, Interpretationsschemata mit den dazugehörigen Haltungen und Ein­stellungen, Verhaltensweisen im lebensgeschichtlichen Bezug, Assoziatio­nen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und den alternativen Hand­lungsmöglichkeiten. Der Schwerpunkt liegt in dem verknüpfenden Verste­hen gegenwärtiger Schwierigkeiten auf dem Hintergrund lebensstil-typi­scher Charakteristika.
Welche lebensstil-typischen Anteile eines Supervisanden an dem Zustan­dekommen einer Konfliktsituation mitverantwortlich sind, welche Anteile bei den anderen Beteiligten zu vermuten sind und welche Anteile auf die Einflussnahme institutioneller und gesellschaftlicher Bedingungen zurück­geführt werden können, sind die wesentlichsten Fragen, deren Beantwor­tung zu einer Klärung beitragen. Eine solche Entflechtung von Konfliktsituationen verhilft dem Supervisan­den dazu, seinen persönlichen Handlungsspielraum wieder neu zu beurtei­len.

Mit der individualpsychologischen Hypothese, „daß alle Hauptprobleme im Leben Probleme der menschlichen Kooperation sind“ (Ansbacher & Ansbacher, 1972; 138) und Alfred Adler jegliche Form von Beratung und Thera­pie als eine Übung und Prüfung in Kooperation bezeichnete, und damit vorrangig wohl die Korrektur der beeinträchtigten Beziehungsfähigkeit der Ratsuchenden gemeint hat, werden in einer individualpsychologisch orien­tierten Supervision die beruflichen Beziehungsgefüge der Supervisanden dahingehend analysiert, in welcher Form sich die Schwierigkeiten, die die Supervisanden zu bewältigen wünschen, äußern und inwieweit sich Ansatzpunkte zu einer verbesserten Kooperation erkennen lassen.

Während die Psychotherapie ihre Zielsetzung auf eine mögliche Änderung der gesamten Persönlichkeitsstruktur, also auf eine Korrektur der grund­sätzlichen Einstellung eines Menschen zum Leben, richtet, hat Supervision im Beratungsprozess Problemlösungen in einem klar definierten Gebiet, nämlich der Verbesserung von Arbeitsbeziehungen, zur Aufgabe. In beiden Tätigkeitsfeldern wird psychologische Untersuchung und Umschaltung angestrebt.

Der Erfolg oder Misserfolg beruflichen Handelns steht im dialektischen Zusammenhang mit der Fähigkeit, „der eisernen Logik des Zusammen­lebens“ (Adler) nachzugehen oder mit ihr in Konflikt zu geraten. Diese Logik fordert die Akzeptanz sozialer Gleichwertigkeit; und zwar vom Supervisanden in seiner beruflichen Tätigkeit mit Klienten/Patienten und in der Zusammenarbeit mit seinen Kollegen als auch von dem Superviso­ren in dem Interaktionsgefüge der Supervision. So hat Adler sein berate­risches und therapeutisches Handeln dem Grundsatz der sozialen Gleich­wertigkeit verpflichtet. Diesen Grundsatz entnimmt er dem philoso­phischen Postulat, dass der Mensch nicht verglichen und bewertet werden kann, weil ein dafür unerlässliches Bezugssystem nicht vorhanden ist. Für den individualpsychologisch orientierten Supervisoren gilt es, unter der Anerkennung dieses Grundsatzes mit den Supervisanden in eine achtungs­volle, kooperative Beziehung zu treten, die trotz des unterschiedlichen Informationsstandes zwischen einem Experten und einem Laien einen Dialog zwischen gleichwertigen Partnern gewährleistet. Es handelt sich dabei um ein Verhalten des Supervisors, das an das angeborene mensch­liche Bedürfnis nach Zugehörigkeit anknüpft, sich aber vereinbaren muss mit dem, was der Supervisand, der möglicherweise entmutigt in Distanz zu seinen Mitmenschen getreten ist, an Nähe zulassen kann. Je entmutigender ein Supervisand über seinen Einfluss an einem konstruk­tiven Miteinander ist, desto kritischer wird das Angebot an gleichwertiger Beziehung auf die Probe gestellt.

In welchem Maße der Einzelne der Forderung nach sozialer Gleichwertig­keit nachkommen kann, hängt – bei Supervisor und Supervisand gleicher­maßen – von dem Grad des Gemeinschaftsgefühls ab. Ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl hemmt die Fähigkeiten, sich selbst und andere als gleichwertig anzuerkennen, Achtung vor sich selbst und Achtung vor den anderen miteinander zu verknüpfen. Es reduziert den Grad des Gemein­schaftsgefühls und blockiert die Bewältigung von Aufgaben. „Um den Reiz von Aufgaben und ihre Bewältigung zu verstehen, brauchen wir also keine Minderwertigkeitsgefühle, ja, sie sind ganz und gar nicht geeignet“ (Adler, 1978; 11). Wenn Minderwertigkeitsgefühle Fähigkeiten blockieren und in letzter Konsequenz völlig lähmen, ist jegliche Verstärkung von Minderwertigkeitsgefühlen in der Supervision zu verhindern.

Die Individualpsychologie geht davon aus, dass fast jedes Verhalten dem Supervisor ermöglicht, den Supervisanden erleben zu lassen, dass kon­struktive Interaktion im Beratungsprozess auf dem Respekt und der Achtung vor dem anderen beruhen. Nur im äußersten Fall wirkt ein Verhalten so vernichtend, dass in ihm nicht ein positiver Ansatz zur Entwicklung konstruktiver Aktivitäten aufzudecken ist.

In der Entmutigung als Ausdrucksphänomen eines erschütterten Selbst­wertgefühls wird der stärkste auslösende Faktor von Kooperationsproble­men gesehen. Insbesondere im Bereich der sozialen Tätigkeitsfelder wer­den die dort Beschäftigten tagtäglich mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert, wie man spätestens durch Schmidbauer (1977) erfahren hat.
Salomon erklärte dazu schon 1927: „Die soziale Berufsarbeit beansprucht die ganze Persönlichkeit, nicht nur die Kräfte des Körpers, des Verstandes oder der Seele, sondern den ganzen Menschen. Sie trägt Enttäuschungen und Entmutigungen ohne Zahl ein“ (Salomon 1927, zit. in Belardi, 1992; 25).

So wird die Anfrage nach Supervision größtenteils von der Erwartung getragen, durch den Supervisor als Experten von Konfliktlösungen, umge­hende Entlastung, das heißt, Ermutigung zu erfahren. Diagnostisch ist daher zunächst zu ergründen, welche Art der Entmutigung sich eingestellt hat, wodurch sie zustande kam, und welche aufrechterhaltenden Bedin­gungen existieren. Dem Supervisanden sind die Antworten auf diese Fra­gen meist nicht bewusst.