Einheit der Person

Die Einheit der Person – der ganzheitliche Ansatz in der Indivi­dualpsychologie

Bereits die Philosophen der Antike fanden heraus, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“. Aber erst in diesem Jahrhundert konnte sich die ganzheitliche Anschauungsweise, also die Einheit der Person, in der abendländischen Philoso­phie behaupten und den Atomismus und den Elementarismus der „Britischen Empiristen“ (Hume, Hobbes, Hartley) in ihrer Vorrangstel­lung ablösen.

Mit Beginn dieses Jahrhunderts setzte sich in den deutschsprachigen Län­dern eine philosophische und psychologische Bewegung durch, die sich auf das aristotelische Prinzip vom „Primat des Ganzen“ zurückbesann und durch Forscher wie Wertheimer, Smuts, Lewin, Goldstein und auch Adler vertreten wurde. Adler wird als der erste bezeichnet, der den Gedanken der Ganzheitlichkeit (die Einheit der Person) in den Raum der Psychologie stellte. Heute finden sich von der Individualpsychologie über die Gestalttherapie bis hin zu den neuesten kybernetischen Modellen gut fundierte Ganzheits­lehren.

Im individualpsychologischen Verständnis weist alles, „was Namen hat in den verschiedenen psychologischen Schulen: Instinkt, Triebe, Gefühl, Denken, Handeln, Stellungnahme zu Lust und Unlust und endlich Eigen­liebe und Gemeinschaftsgefühl“ (Adler, 1990; 23) eine einheitliche Struktur auf, die das gesamte menschliche Verhalten durchsetzt und prägt. Alle vorstellbaren Antriebe eines Menschen – gleich welchen Ursprungs – sind unteilbar miteinander verbunden; sie werden auf eine für das jewei­lige Individuum typische Art und Weise wahrgenommen, erfahren, aufge­griffen, verarbeitet und in menschliche Tätigkeiten umgesetzt. Kognitive, physische und psychische Äußerungen eines Menschen werden dann zu verstehen und interpretieren sein, wenn der Mensch als ein solches unteil­bares Ganzes akzeptiert wird.

Alle Variablen, die sich im Verhalten eines Menschen erkennen lassen, werden unter der Perspektive der ›Einheit der Person‹ in Bezug gesetzt, auf eine „gemeinsame Linie gebracht und zu einem Gesamtportrait indivi­dualisierend zusammengetragen“ (Adler, 1974; 19). Aus diesem Ver­ständnis heraus ist auch der Begriff Individualpsychologie entstanden (indivisibel; lat. = unteilbar). Die Individualpsychologie ist mit Paul Roms Worten eine Wissenschaft, die „bezweckt, den Sinn, die Bedeutung konkreter wie imaginärer Verhaltensakte eines Menschen im Gesamt­zusammenhang seines Daseins zu erfassen, um sein individuelles Bewe­gungsgesetz formulieren zu können, das den Lebensstil nach sich zieht“ (Rom, 1976; 13).

Denn diese Einheitlichkeit des Menschen bezeichnet Adler als dessen Lebensstil. Alle Gedanken, Gefühle, Handlungen als auch alle anderen feststellbaren Einzelheiten und Phänomene werden folglich bei einer kon­sequent durchgeführten ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen als Äußerung eines einheitlichen Lebensstils untersucht. Dabei handelt es sich bei dem Begriff Lebensstil nicht – um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen – um eine Form charakteristischer Vereinheitlichung und Gleichmachung; er beschreibt hingegen ein in der frühen Kindheit erwor­benes Grundmuster von Ansichten, die das Kind über sich selbst, die anderen Menschen und die Welt gewonnen hat, als auch grundlegende Zielsetzungen und Meinungen darüber, welche Methoden anzuwenden sind, um jene angestrebten Ziele zu erreichen.