Kooperationsfähigkeit, Einfühlungsfähigkeit

Kooperations­fähigkeit und Einfühlungsvermögen

Besonders in den Dimensionen Einfühlungs- und Kooperationsfähigkeit zeigt sich die Komplexität des Begriffes. Adler selbst sah sich außer­stande, eine endgültige Definition herauszuarbeiten und hielt fest an einer Formulierung eines englischen Autors, dessen Name mir leider bisher unbekannt blieb: »mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören, mit dem Herzen eines andern fühlen« und bezeichnete diese Redewendung 1928 noch als »vorläufig zuverlässige Definition« für sein Gemeinschaftsgefühl (Adler 1928 b, zit. in Ansba­cher, ebd.).

In diesem Zusammenhang verglich er sein Verständnis des Begriffes mit den Inhalten der Begriffe Einfühlung, Identifikation und Verstehen, die namhafte Persönlichkeiten wie Herder, Novalis, Jean Paul, Lipps, Müller-Freienfels u.a. interpretiert und als Vorgänge fundamentalen menschlichen Erlebens herausgestellt haben. Dabei klärt Adler: »Die Individualpsychologie darf als ihren Befund in Anspruch nehmen, Einfühlung und Verstehen als Tatsachen des Gemeinschaftsgefühls, des Einigseins mit dem All, hervorgehoben zu haben. Diese Identifikation geschieht immer je nach dem Grade unseres Gemeinschaftsgefühls. Identi­fizierung ist unumgänglich notwendig, um zu einem Gesellschaftsleben zu kommen« (Adler 1928 b, zit. in Ansbacher, 1975; 143).

Kooperationsfähigkeit oder Einfühlungsvermögen bedürfen der Übung, einer Übung in Kooperation mit anderen – auf der Basis des Bewusstseins, Teil des Ganzen, der Einheit zu sein und dem Bestreben, Vor- und Nachteile dieser Kooperation als dem Leben zugehörig zu akzeptieren. Schwierigkeiten und Belastungen, die dem Individuum bei der Bewältigung seiner Lebensaufgaben erwach­sen, treten für Adler immer als Probleme der Kooperationsfähigkeit auf.

In der Interaktion mit den Mitmenschen (Lebenspartner, Arbeitskollegen und Mitbürgern) äußern sich diese Kooperationsprobleme auf der Bezie­hungsebene genauso wie auf der Sachebene bei der Bearbeitung gemein­samer Aufgaben. Alle Auseinandersetzungen mit Situationen, die das eigene Selbstwertgefühl ins Wanken geraten lassen, werden auf der Basis von Aktivität und Gemeinschaftsgefühl ausgetragen.

Dabei kennzeichnen Sicherungsverhalten und Risikobereitschaft die beiden Pole menschlicher Aktivität. Unter Sicherungsverhalten werden diejenigen Methoden menschlichen Handelns verstanden, die das beeinträchtigte Selbstwertgefühl vor zusätz­lichen Erschütterungen schützen sollen: Abwehrmaßnahmen sämtlichen Ausmaßes. Als Konsequenz ergibt sich daraus eine Haltung der „Ichhaftigkeit“ nach Künkel (1972) oder auch „Ichbezogenheit“ nach Antoch (1981). Alle nun folgenden Erfahrungen mit der Umwelt werden zu dem Wert und Unwert der eigenen Person in Beziehung gesetzt. Das beeinträchtigte Selbstwertgefühl erfährt eine Stagnation. Zur Risikobereitschaft zählt die Fähigkeit des Individuums, das beein­trächtigte Selbstwertgefühl wahr- und anzunehmen mit der Bereitschaft, eine Veränderung zu erreichen. Dazu ist es notwendig, die selbstgestellten Idealforderungen an die Situa­tion, die zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls geführt hat, zurück­zunehmen und sich einer erneuten Auseinandersetzung zu stellen.

Diese Haltung nennt Künkel (ebd.) „Sachlichkeit“, Antoch (ebd.) „Sachbezogenheit“. Wirkungsvolle Lösungsstrategien stehen hierbei in unmittelbarem Zusam­menhang mit der Fähigkeit des Individuums im Umgang mit den Anforde­rungen der jeweiligen Situation: Je mehr sich ein Individuum als dazugehörig erlebt, desto mehr traut es sich zu, den Lebensaufgaben gewachsen zu sein und umso kooperativer zeigt sich sein Verhalten.